Montag, 11. April 2011

Eine Liebeserklärung



Jeder Wochenendausflug in die faszinierende heilige Stadt Kashi (alter Name für Varanasi) hat uns erneut zum Staunen gebracht. Wir haben viele Tempel besucht, Hindurituale beobachtet und selbst zelebriert, Feuerzeremonien bestaunt, Rikscha, Tuktuk oder Boot gefahren, auf den Häusern und Tempeln rumturnende Affen bestaunt, Bollywood-Filmaufnahmen am Assi-Ghat beobachtet, mit den verschiedensten Menschen gesprochen, mit ihnen gekocht, gegessen, gelacht und gespielt, Pan (indischer Kautabak) probiert und ausgespuckt (Linus liebt das Kinder-Pan, er ist wohl doch eine Hindu-Reinkarnation), gefeilscht und gehandelt, Künstler getroffen, mit Assi-Kindern gespielt, viele interessante Tiere gesehen, viel fotografiert und fotografiert worden und vieles, vieles mehr.



Ich liebe diese Stadt und obwohl ich bereits viermal hier war, weiss ich eines mit Gewissheit: Ich komme wieder. Es ist eine magische Stadt, bezaubernd, heilig, unverwechselbar und absolut ehrlich. Hier wird nichts vertuscht oder versteckt. Es ist, wie es ist, und dies oft nicht zum Vorteil der hier lebenden Menschen. Es sei denn, man hat Glück und am nächsten Tag fährt die Frau des zweiten Premierministers im Auto durch deine Strasse. Dann wird nämlich die mit riesen Schlaglöchern übersäte und unebene Erdstrasse noch um 22.00 Uhr am Vorabend frisch und perfekt geteert (auch das haben wir erlebt). Schade, dass diese Frau nicht alle Strassen in Varanasi durchfahren hat!



Es ist nicht nur das Staunen über die vielen ungewohnten Dinge, die man hier sehen und erleben kann. Es ist für mich der Ort, wo ich mein mitgebrachtes westliches Wissen dauernd hinerfragen kann und muss. Die Massstäbe und vor allem das Denken der Menschen sind recht unterschiedlich. Und ich rede hier nicht von ein paar Aussenseitern, sondern von 1.2 Milliarden Menschen!



Vieles in Indien und vor allem hier in Varanasi ist rückständig, verwahrlost, laut und schmutzig. Es gibt hier Krankheiten und Schicksale, die wir im Westen schon lange nicht mehr kennen. Die meisten der Menschen hier sind gewohnt zu leiden und vieles zu ertragen. Und doch sind sie so unglaublich stolz, fröhlich und selbstbewusst. Ich bewundere diese Menschen hier. Jeden Tag kann ich von ihnen lernen. Und so manches Problem wird hier in eine andere Relation gesetzt.



Und das Kiran? Ja, das ist eine Liebesgeschichte für sich. Der Staat Uttar Pradesch, der zweitärmste Staat in Indien mit 80 Mio. Einwohnern, hat leider nur ein NGO (Non-Government-Organization) in dieser Art für behinderte Menschen zu bieten. Das Kiran ist eine grüne Oase, wo man sich einfach wohlfühlen muss. Es spiegelt sich in der Art, wie die Menschen hier miteinander umgehen. Für viele behinderte Menschen ist es ein Ort, an dem sie einfach sich selbst sein können und nicht immer wieder menschenunwürdig behandelt werden. Das Kiran wird wohl immer ein Teil von mir sein und ich freue mich, weiterhin im Vorstand des Kiran-Freundeskreises mitzuarbeiten. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis ich die Menschen hier wiedersehe.



In zwei Tagen steigen wir wieder in den Flieger und reisen zurück nach Delhi. Dort werden wir dann endlich wieder Dominik treffen und für zwei Wochen gemeinsam eine Rundreise geniessen. Das Abenteuer ist bis heute gut gelungen. Finian und Linus haben die Zeit hier im Kiran wirklich hervorragend gemeistert. Natürlich brauchte es seine Zeit, bis wir völlig eingewöhnt waren, aber es erstaunt uns selbst, wie selbstverständlich und normal der Kiran-Alltag für uns geworden ist. Finian erzählte mir kürzlich, dass ihm gar nicht mehr auffällt, ob jemend behindert ist und in welcher Art. Ja, es ist wirklich so, mit der Zeit sieht man nur noch Andersbegabte.



Es war nicht immer einfach. Vor allem wohl für mich, da ich 24 Stunden die Gesamtverantwortung hatte. Ich musste alles organisieren, übersetzen, Streitereien schlichten (das kam leider zwischen den beiden Buben sehr oft vor), zuhören, trösten, waschen, putzen, Essen organisieren, Schulaufgaben korrigieren, vieles erklären und vermitteln, die Wochenenden organisieren, bei Krankheit pflegen, arbeiten in der Nursery, in der Special Education und zusätzlich im letzten Monat bei den Gehörlosen (ich habe dort Spielanleitungen übersetzt und gezeigt, wie man bestehende Gesellschaftsspiele aus der Bibliothekt spielt).

Dann der regelmässige Kontakt mit den Hostelkindern. Viele vermissen ihre Eltern und haben oft etwas Nähe gebraucht. Natürlich machen uns auch die Hitze und unruhige Nächte zu schaffen. Ja, es war eigentlich recht anstrengend, aber eben auch so unglaublich erfüllend und schön.



Ich bin auf Finian und Linus sehr stolz. Sie haben alles unglaublich gut mitgemacht. Obwohl wir hier unter sehr einfachen Bedingungen gelebt haben, wurde darüber fast kein Wort verloren. Auch das einseitige Essen war kaum ein Thema. So lange sie sich Süssigkeiten vom Kiran-Shop besorgen konnten und in der Stadt manchmal eine Pizza oder Finger Chips bestellen konnten, war alles in Ordnung. Finian hat sogar eine richtige Liebesbeziehung zu Indien entwickelt. Er hat ein grosses Abenteuerherz und liebt es wie ich, ungewohnte und neue Dinge zu erleben. Linus hat vor allem die Natur hier genossen. Er konnte sich in dem weitläufigen Kiran, das mit einer grossen Mauer umzäunt ist, frei bewegen und hat so einige Abenteuer ausserhalb meiner Reichweite erlebt. Jedenfalls hat er für den Kindergarten viele Forschersachen wie Federn, Schlangenhäute, Riesenbohnen, Bienenwaben usw. gefunden und ist sehr solz darauf. Klar, dass das alles zu uns nachhause muss.

Und dann ist da noch die grosse Liebe zwischen Deepu und Linus. Wann immer Deepu Zeit hat, gehen sie zusammen spazieren, machen ein Spiel zusammen oder plaudern ein wenig. Es ist unglaublich, wie sich Linus bereits in Englisch mitteilen kann. Wie auch Finian haben beide recht gut Englisch gelernt. Schade, dass wir nicht ein halbes Jahr hier sind. Dann würden sie wohl recht fliessend Englisch sprechen können.


Deepu und Linus in Schuluniform.

Dann noch ein grosses Dankeschön an Dominik. Du hast uns dieses Abenteuer gegönnt. Wir freuen uns nun, die zwei nächsten Wochen mit dir zusammen zu verbringen, und sind gespannt, was wir alles noch erleben werden.

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