Montag, 11. April 2011

Eine Liebeserklärung



Jeder Wochenendausflug in die faszinierende heilige Stadt Kashi (alter Name für Varanasi) hat uns erneut zum Staunen gebracht. Wir haben viele Tempel besucht, Hindurituale beobachtet und selbst zelebriert, Feuerzeremonien bestaunt, Rikscha, Tuktuk oder Boot gefahren, auf den Häusern und Tempeln rumturnende Affen bestaunt, Bollywood-Filmaufnahmen am Assi-Ghat beobachtet, mit den verschiedensten Menschen gesprochen, mit ihnen gekocht, gegessen, gelacht und gespielt, Pan (indischer Kautabak) probiert und ausgespuckt (Linus liebt das Kinder-Pan, er ist wohl doch eine Hindu-Reinkarnation), gefeilscht und gehandelt, Künstler getroffen, mit Assi-Kindern gespielt, viele interessante Tiere gesehen, viel fotografiert und fotografiert worden und vieles, vieles mehr.



Ich liebe diese Stadt und obwohl ich bereits viermal hier war, weiss ich eines mit Gewissheit: Ich komme wieder. Es ist eine magische Stadt, bezaubernd, heilig, unverwechselbar und absolut ehrlich. Hier wird nichts vertuscht oder versteckt. Es ist, wie es ist, und dies oft nicht zum Vorteil der hier lebenden Menschen. Es sei denn, man hat Glück und am nächsten Tag fährt die Frau des zweiten Premierministers im Auto durch deine Strasse. Dann wird nämlich die mit riesen Schlaglöchern übersäte und unebene Erdstrasse noch um 22.00 Uhr am Vorabend frisch und perfekt geteert (auch das haben wir erlebt). Schade, dass diese Frau nicht alle Strassen in Varanasi durchfahren hat!



Es ist nicht nur das Staunen über die vielen ungewohnten Dinge, die man hier sehen und erleben kann. Es ist für mich der Ort, wo ich mein mitgebrachtes westliches Wissen dauernd hinerfragen kann und muss. Die Massstäbe und vor allem das Denken der Menschen sind recht unterschiedlich. Und ich rede hier nicht von ein paar Aussenseitern, sondern von 1.2 Milliarden Menschen!



Vieles in Indien und vor allem hier in Varanasi ist rückständig, verwahrlost, laut und schmutzig. Es gibt hier Krankheiten und Schicksale, die wir im Westen schon lange nicht mehr kennen. Die meisten der Menschen hier sind gewohnt zu leiden und vieles zu ertragen. Und doch sind sie so unglaublich stolz, fröhlich und selbstbewusst. Ich bewundere diese Menschen hier. Jeden Tag kann ich von ihnen lernen. Und so manches Problem wird hier in eine andere Relation gesetzt.



Und das Kiran? Ja, das ist eine Liebesgeschichte für sich. Der Staat Uttar Pradesch, der zweitärmste Staat in Indien mit 80 Mio. Einwohnern, hat leider nur ein NGO (Non-Government-Organization) in dieser Art für behinderte Menschen zu bieten. Das Kiran ist eine grüne Oase, wo man sich einfach wohlfühlen muss. Es spiegelt sich in der Art, wie die Menschen hier miteinander umgehen. Für viele behinderte Menschen ist es ein Ort, an dem sie einfach sich selbst sein können und nicht immer wieder menschenunwürdig behandelt werden. Das Kiran wird wohl immer ein Teil von mir sein und ich freue mich, weiterhin im Vorstand des Kiran-Freundeskreises mitzuarbeiten. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis ich die Menschen hier wiedersehe.



In zwei Tagen steigen wir wieder in den Flieger und reisen zurück nach Delhi. Dort werden wir dann endlich wieder Dominik treffen und für zwei Wochen gemeinsam eine Rundreise geniessen. Das Abenteuer ist bis heute gut gelungen. Finian und Linus haben die Zeit hier im Kiran wirklich hervorragend gemeistert. Natürlich brauchte es seine Zeit, bis wir völlig eingewöhnt waren, aber es erstaunt uns selbst, wie selbstverständlich und normal der Kiran-Alltag für uns geworden ist. Finian erzählte mir kürzlich, dass ihm gar nicht mehr auffällt, ob jemend behindert ist und in welcher Art. Ja, es ist wirklich so, mit der Zeit sieht man nur noch Andersbegabte.



Es war nicht immer einfach. Vor allem wohl für mich, da ich 24 Stunden die Gesamtverantwortung hatte. Ich musste alles organisieren, übersetzen, Streitereien schlichten (das kam leider zwischen den beiden Buben sehr oft vor), zuhören, trösten, waschen, putzen, Essen organisieren, Schulaufgaben korrigieren, vieles erklären und vermitteln, die Wochenenden organisieren, bei Krankheit pflegen, arbeiten in der Nursery, in der Special Education und zusätzlich im letzten Monat bei den Gehörlosen (ich habe dort Spielanleitungen übersetzt und gezeigt, wie man bestehende Gesellschaftsspiele aus der Bibliothekt spielt).

Dann der regelmässige Kontakt mit den Hostelkindern. Viele vermissen ihre Eltern und haben oft etwas Nähe gebraucht. Natürlich machen uns auch die Hitze und unruhige Nächte zu schaffen. Ja, es war eigentlich recht anstrengend, aber eben auch so unglaublich erfüllend und schön.



Ich bin auf Finian und Linus sehr stolz. Sie haben alles unglaublich gut mitgemacht. Obwohl wir hier unter sehr einfachen Bedingungen gelebt haben, wurde darüber fast kein Wort verloren. Auch das einseitige Essen war kaum ein Thema. So lange sie sich Süssigkeiten vom Kiran-Shop besorgen konnten und in der Stadt manchmal eine Pizza oder Finger Chips bestellen konnten, war alles in Ordnung. Finian hat sogar eine richtige Liebesbeziehung zu Indien entwickelt. Er hat ein grosses Abenteuerherz und liebt es wie ich, ungewohnte und neue Dinge zu erleben. Linus hat vor allem die Natur hier genossen. Er konnte sich in dem weitläufigen Kiran, das mit einer grossen Mauer umzäunt ist, frei bewegen und hat so einige Abenteuer ausserhalb meiner Reichweite erlebt. Jedenfalls hat er für den Kindergarten viele Forschersachen wie Federn, Schlangenhäute, Riesenbohnen, Bienenwaben usw. gefunden und ist sehr solz darauf. Klar, dass das alles zu uns nachhause muss.

Und dann ist da noch die grosse Liebe zwischen Deepu und Linus. Wann immer Deepu Zeit hat, gehen sie zusammen spazieren, machen ein Spiel zusammen oder plaudern ein wenig. Es ist unglaublich, wie sich Linus bereits in Englisch mitteilen kann. Wie auch Finian haben beide recht gut Englisch gelernt. Schade, dass wir nicht ein halbes Jahr hier sind. Dann würden sie wohl recht fliessend Englisch sprechen können.


Deepu und Linus in Schuluniform.

Dann noch ein grosses Dankeschön an Dominik. Du hast uns dieses Abenteuer gegönnt. Wir freuen uns nun, die zwei nächsten Wochen mit dir zusammen zu verbringen, und sind gespannt, was wir alles noch erleben werden.

Sonntag, 10. April 2011

Abschied von Varanasi



Wir sind nur noch eine Woche im Kiran und das letzte Wochenende in Varanasi. Es heisst nun Abschied nehmen von so vielen tollen Menschen, mit denen wir zusammen sein durften. Auch wenn man nicht viel besitzt, so wurde doch immer alles mit uns geteilt. Das ist indische Kultur. Und so wurde oft für uns speziell Fleisch und Fisch gekocht, obwohl man sich diese Lebensmittel, wenn von der Religion und Kaste überhaupt erlaubt, nur sehr selten leistet. Wir wurden bewirtet, man hat sich liebevoll um Finian und Linus gekümmert und man hat sich immer Zeit für uns genommen. Das Abschiednehmen fällt vor allem mir sehr schwer, da ich weiss, dass wir uns wohl einige Jahre nicht mehr sehen. Ich werde diese grosszügigen und liebenswerten Menschen sehr vermissen. Ganz speziellen Dank geht vor allem an Maria, Hiralal, Maibu, Raju, Lipikar und Ramesch!




Samstag, 9. April 2011

Die zweitletzte Woche im Kiran

Es ist nun 38 bis 40 Grad im Schatten. Die Deckenventilatoren laufen und die täglichen Stromausfälle häufen sich. Auch das Internet ist manchmal ein paar Tage abgeschaltet. Das Wetter macht alle sehr müde, auch die Inder. Alles braucht noch viel mehr Zeit und noch mehr Geduld. Die Erde wird ganz staubig und geht durch alle Ritzen. Alles, was man ein paar Tage rumliegen lässt, sieht aus, als ob es jahrelang dagelegen hätte. Täglich wische ich alle Zimmer und trage die staubige Erde wieder raus.

Neuerdings haben wir fast täglich Frösche in allen Grössen im Guest House. Nach den Riesenkäfern, den zirpenden Grillen in der Nacht und den üblichen Insekten sind sie mir schon fast am liebsten.

Linus bekam vor einer Woche Fieber mit sehr starken Kopfschmerzen. Nachdem es am nächsten Tag nicht besser wurde und Linus sich ein paar Mal übergeben musste, ist der Kiran-Doktor zu uns gekommen. Da er eine Malaria nicht ausschliessen konnte und eine Früherkennung sehr wichtig ist, bekam Linus die nötigen Malariatabletten und ein Antibiotikum, damit man eine Hirnhautentzündung vermeiden kann. Für den nächsten Tag wurde ein Kiran-Jeep bestellt, der uns in ein Spital in Varanasi bringen sollte, damit eine Blutuntersuchung gemacht werden kann. Zum Glück ging es Linus am nächsten Tag so viel besser, dass wir ihm die Blutuntersuchung ersparen konnten. Nach drei Tagen ging es ihm bereits wieder so gut, dass ich ihn fast anbinden musste, damit er nicht in der Hitze rumrennt.

Finian ist in Indien noch nie krank geworden. Nicht einmal Durchfall hat er bekommen. Seine einseitige Ernährung (nur Reis und Dahl ohne Gemüse) scheint ihm zu bekommen. Nur seine moskitozerstochenen Beine und Schürfungen machen mir wegen Infektionsgefahr manchmal Sorgen. Seine überaus empfindliche Haut wird hier recht beansprucht. Dazu kommt noch, dass er leider die Verletzungen in der Nacht immer wieder aufkratzt.

Diese Woche war für mich so anstrengend, dass ich ein paar Tage später selber Fieber bekam. Bei dieser Hitze ist das nicht sehr angenehm. Übrigens, das Kinderfieberthermometer, das ich mitgenommen habe, piepst von Zeit zu Zeit immer wieder aus dem Nécessaire heraus. Die Temperaturen hier sind so hoch, dass das automatische Thermometer selbst zu messen anfängt!

Dienstag, 5. April 2011

Kiran-Hostel



Jeden Abend essen wir in einem der Kiran-Hostels. Es gibt ein Mädchen- und ein Buben-Hostel. Dort leben ca. 60 Kinder, die nicht täglich nach Hause können. Meistens leben die Eltern zu weit entfernt oder die Lebensumstände für ein behindertes Kind sind zuhause sehr schwierig. Die Kinder hier sind erstaunlich fröhlich. Sie haben gelernt, sich gegenseitig zu helfen. Und so ist es selbstverständlich, dass die Kinder, die einigermassen laufen können, einen Rollstuhl stossen und alle die Gebärdensprache für die Gehörlosen können.

Finian und Linus spielen fast täglich mit all den Kindern und wir geniessen die fröhliche und liebevolle Stimmung im Kiran. Übrigens, mich nennt man hier Petra-Didi. Das heisst «Grosse Schwester Petra» und ist eine Höflichkeitsform für eine weibliche Person, die älter ist als man selbst. Linus ist der «Babu». Das braucht man für alle kleinen Kinder und ist sehr liebevoll gemeint.



In der ganzen Zeit, in der wir täglich mit diesen Kindern Kontakt haben, habe ich nur ein einziges Mal ein Kind weinen sehen. Es war an Holi, dem farbenfrohen Hindufest, an dem sicher zwei Drittel der Hostel-Kinder für drei Tage nach Hause durften. Eine Mutter hat ihren Sohn, der im Kiran bleiben musste, angerufen. Da ist das Heimweh dann doch hochgekommen.

Im Kiran hat man nur vier Wochen im Jahr Ferien. So sehen viele dieser Kinder ihre Eltern nur im Juni für vier Wochen!

Da die Hostelkinder im Kiran kaum Abwechslung haben, gehört es zu den Aufgaben eines Volontärs wie mir, jeden Sonntag mit ihnen einen Ausflug in die nähere Umgebung zu machen oder draussen oder drinnen mit ihnen zu spielen, zu malen oder zu basteln. Am liebsten gehen sie aber auf Erkundungstour und so sind wir oft mit ca. 25 Kindern mit Rollstühlen, Bein-Prothesen und -Orthesen unterwegs. Auch Finian und Linus haben Freude daran, ein Kind im Rollstuhl zu stossen. Und manchmal darf Linus sogar auf dem Schoss mitfahren.



Hier haben wir einen kleinen Ausflug in einen Hindu-Tempel gemacht, mit Dr. Moreno, dem Kiran-Arzt, und Kerstin, der zweiten Volontärin.

Mittwoch, 30. März 2011

Sarnath

Sarnath ist nach Bodh Gaya der zweitwichtigste Ort für einen Buddhisten. Buddha hielt an diesem Ort seine erste Rede. So wurden rund um die Stupa, wo er seine erste Rede gehalten hat (siehe unten), Tempel und Klöster aus allen wichtigen buddhistischen Ländern gebaut. Man kann somit architektonische Prachtbauten aus Japan, China, Sri Lanka, Tibet, Thailand, Korea und Myanmar bewundern und natürlich die vielfältigen Darstellungen von Buddha.



Das Erstaunliche ist, dass Sarnath inzwischen mit Varanasi zusammengewachsen ist. Der heiligste Ort der Hindus ist mit dem zweitwichtigsten Ort der Buddhisten verschmolzen. Und das Ganze haben wir als Christen zusammen mit unserem Tuktuk-Fahrer Raju, der Hindu ist, und unserem islamischen Lieblingsschneider Maibu besichtigt. Auf allen meinen Indienreisen habe ich immer unglaublich viel Toleranz zwischen den Religionen erlebt. Dass es bei 1.2 Milliarden Menschen in Indien ein paar Spinner gibt, ist natürlich nicht vermeidbar. Trotzdem könnten die Schweizer betreffend Toleranz hier einiges dazulernernen.




Als wir in einem der zwei tibetischen Tempel waren, wurde uns gesagt, dass der 17. Karmapa im Tempel anwesend sei und bald herauskommen werde, um den Pilgern den Segen zu geben. Er ist nach dem Dalai Lama das wichtigste geistliche Oberhaupt der Tibeter. Das darf man sich natürlich nicht entgehen lassen. Und so sind auch wir zwischen den Mönchen und einigen westlichen Anhängern mit einem weissen Segnungstuch gestanden und haben auf den Lama gewartet. Linus musste natürlich wieder mal ein riesen Geschrei machen, weil wir nur ein Tuch hatten und er eines alleine wollte. So kam ein sehr junger Mönch (vielleicht 13 Jahre alt) auf ihn zu und hat ihm seines gegeben, obwohl für diesen Mönch die Segnung wohl einer der wichtigsten Momente seines Lebens ist. Dieser Mönch hat die buddhistische Lehre bereits verstanden - Linus muss noch daran arbeiten!




Jedenfalls kam es leider doch nicht zu der Segnung. Der Lama erschien ganz kurz auf dem Dach und hat wohl mitgeteilt, dass er erst in zwei Stunden kommen werde. So sind wir ohne Segen, aber sehr glücklich und sehr müde, von den vielen tollen Eindrücken zurück an den Assi-Ghat gefahren.

Nein, nicht ganz. Unterwegs hat uns Maibu noch zu sich in seine Wohnung eingeladen. Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern (man sieht sie auf dem Bild, wo Linus im Sand eingegraben ist) in einem Raum, der ca. 6 m2 gross ist. In diesem wird geschlafen, gekocht und geschneidert. Im Nebenraum, der auch nicht grösser ist, leben seine Eltern. Wenigstens haben sie eine eigene 3-m2- Toilette, in der man aber leider nicht stehen kann, da sie unter einer Treppe eingebaut ist.

Montag, 28. März 2011

Stolze Funde

Ja klar, gibt es hier Schlangen, aber zum Glück haben wir noch nie eine angetroffen. Dass sie aber so gross sein können, hat mich doch schaudern lassen. Linus hat diese Schlangenhaut hinter einem der Kiran-Häuser gefunden. Er ist ja sooooo stolz auf seinen Fund. Da musste natürlich Finian auch gleich auf Schlangenhautsuche gehen und wurde mit einigen grösseren Bruchstücken belohnt. Beunruhig bin natürlich nur ich.



Es gibt aber noch viel mehr Tiere im Kiran. Wir können sie jeden Tag sehen und hören. Bereits am morgen früh werden wir von den wunderschönen und ungewohnten Vogelrufen geweckt. Das Kiran ist ein richtiges Vogelparadies.

Dann sind da noch die schnellen Streifenhörnchen, die überall in den Bäumen rumturnen. Es gibt Mäuse (oder Ratten) im Dach, die über uns hin und her rennen, und viele Besuche von grösseren und kleineren Insekten. Es gibt wunderschöne Schmetterlinge und wenn es dunkel ist auch viele Fledermäuse und manchmal Glüehwürmli.

Die weniger angenehmen Insekten sind die Moskitos. Von Anfang an versuchten wir, uns mit spezieller Moskitocreme, Sprays und Moskito-Netzen zu schützen. Und doch werden wir immer wieder gestochen. Vor allem morgens in der Schule oder gegen Abend, wenn wir uns draussen aufhalten.

Das Kiran hat eine kleine Farm mit Wasserbüffeln und Kühen, welche uns täglich mit einem Liter frischer Milch versorgt Es gibt Ziegen und Zicklein und ein Pferd für die Hippotherapie.

Und dann gibt es noch die vielen Hunde, die hier draussen auf dem Gelände leben. In der Nacht kann man immer wieder ihre Rangordnungskämpfe hören und zwischendurch heulen sie wie Wölfe. Sie ernähren sich hauptsächlich von den Essensresten der Schule und der Hostels. So bekommen auch sie jeden Tag Reis, Dahl und Gemüse! Übrigens kenne ich bereits zwei indische Hundebesitzer (diese Hunde leben dann im Haus und nur im Haus), welche ihre Hunde vollvegetarisch füttern. Diese Hunde essen auch Erbsen und Papaya und haben noch nie Fleisch, Fisch oder ein Ei bekommen.

Finian und Linus könnten wohl noch einige Tiere mehr aufzählen. Von Stabheuschrecken bis Eidechsen, Fröschen und Kröten gibt es hier alles. Doch die schönsten Bewohner sind wohl die Pfaue, die hier frei rumstolzieren. Eine wahre Pracht.

Halbzeit

Eineinhalb Monate sind wir nun hier. Wir haben bereits so viel erlebt, dass wir das Gefühl haben, länger in Indien zu sein. Inzwischen ist unser Daheim das Guest House im Kiran geworden. Der Tagesablauf hat sich so sehr eingespielt, dass Linus bereits die Bemerkung machte, dass er sich wohl zuhause in der Schweiz auch wieder eingewöhnen müsse. So wie er es auch hier erlebt habe.

Es ist nun mindestens 35 Grad im Schatten. In der Nacht geht das Thermometer nicht mehr unter 27 Grad.

Wir leben hier in einem kleinen Mikrokosmos. Von den Sorgen draussen in der grossen Welt haben wir nicht viel mitbekommen. Da wir hier keinen Fernseher und keine Zeitung haben, stammen unsere einzigen Informationen aus den kurzen Mails oder Skypegesprächen mit Dominik. Vom Regierungswechsel in Ägypten und von den grossen Problemen in Libyen habe ich sogar erst vor ein paar Tagen durch einen Schweizer Besucher erfahren. Die Riesenkatastrophe in Japan wurde nur kurz von zwei indischen Lehrern erwähnt. Eine Lehrerin fragte mich besorgt, ob die Schweiz sehr nah bei Japan liege.

Die Menschen hier haben meistens nicht die Möglichkeit, sich um andere Probleme als die eigenen zu kümmern. Nicht dass sie nicht mitfühlend wären, aber der tägliche Überlebenskampf ist einfach noch zu gross. Hier ein paar Geschichten aus dem Kiran:

Als wir im Kiran ankamen, erzählte mir ein indischer Freund, dass seine Frau und die zwei Kinder gerade Typhus hätten. Seine Frau müsse über eine längere Zeit zweimal täglich eine Spritze bekommen, damit sie wieder gesund werde. Natürlich ist für teure Medikamente kein Geld da. So muss er bei einem Freund Schulden machen. Als es nach ein paar Wochen seiner Familie etwas besser ging, erzählte er mir, dass nun seine Schwiegermutter sehr krank sei. Da niemand gut für sie sorgen könne, habe er sie zu sich in sein Haus (für uns eher eine Hütte) eingeladen. Da es bei ihm zuhause besseres Essen gibt als dort, wo sie herkommen, sind gleich zwei Schwägerinnen mit ihren zwei Kindern mitgekommen. Mein Freund hat selber eine Frau und drei Kinder. Nun leben in dieser ca. 10 m2 grossen Hütte (ein Raum, in dem gekocht, geschlafen, Hausaufgaben gemacht und gearbeitet wird) fünf erwachsene Personen und fünf Kindcr. Das Geld ist bereits für seine Familie recht knapp. Nun muss er noch fünf weitere Personen durchbringen. Und das auf unbestimmte Zeit. Warum er nicht sagt, dass er keinen Platz habe und zu wenig Geld? Weil das in Indien unmöglich ist! Du kannst so die ganze Familie verlieren. Und ohne Familie bist du in Indien verloren – sie ist dein einziger Halt.

Was ich noch nicht erzählt habe, ist, dass mein Freund als einziger in der Familie stark behindert ist. Seine Beine sind durch Kinderlähmung sehr stark eingeschränkt und er läuft mit Beinstützen. Seine Frau behandelt ihn leider sehr schlecht. Und trotzdem macht er alles für sie. Schade, dass nicht alle erkennen, was für ein wunderbarer Mensch er ist.

Oder das damals dreijährige Mädchen, das vor 14 Jahren von ihrem Vater im Bahnhof zurückgelassen wurde mit den Worten: «Ich kommen gleich wieder.» Aber er ist nie mehr zurückgekommen. Da man die Eltern nicht ausfindig machen konnte, wurde sie ins Kiran gebracht. Die Beine des Mädchens sind wegen der Kinderlähmung so stark beeinträchtigt, dass sie heute im Rollstuhl sitzt. Sie ist hier in guten Händen, aber die Frage, warum wohl die Eltern keine andere Lösung gefunden haben, wird wahrscheinlich nie beantwortet werden.

Kürzlich würde ein 15jähriger Junge ins Kiran gebracht, der vor einem Jahr seinen rechten Unterarm, alle Finger der linken Hand ausser dem Daumen und beide Füsse bis zu den Fersen verloren hat. Warum? Sein Vater hatte Schulden, die er nicht zurückzahlen konnte. Da hat sich der Geldeintreiber bei seinem Sohn gerächt. Nun versucht man hier im Kiran, ihm Prothesen anzufertigen. Ob das gelingen wird, ist noch unklar, da die Haut an den Schnittstellen noch sehr empfindlich ist.

Oder das 20jährige Mädchen, das aus sehr armen Verhältnissen stammt, aber eigentlich zufrieden ist. Denn sie ist recht schön und hofft, einen guten Ehemann zu finden. Beim Kochen explodiert dann aber eine Gasflasche. Ihr ganzer Körper wird verbrannt und entstellt. Nun ist sie froh, als Näherin für Maria (meine indische Freundin) zu arbeiten. Ob sie noch einen Ehemann finden wird? Wohl kaum. Oder die Mitgift ist so hoch, dass die Eltern diese unmöglich bezahlen können. Aber das Schlimmste sind wohl die bleibenden Schmerzen, die grossen Bewegungseinschränkungen, da die Haut besonders an den Armen zu kurz ist und ihre grosse Scham. Als ich ihre entstellten Arme sah, war mir klar, dass ich unbedingt dafür sorgen muss, dass sie eine zweite Operation bekommt, die ihr erlaubt, ihre Arme ganz auszustrecken. In der Schweiz wäre das eine Selbstverständlichkeit.

Ein guter Freund erzählte mir, dass er im letzten Jahr nach Bombay fahren musste. Seine Schwägerin hatte sich in ihrer Wohnung vor ihrem Ehemann mit Benzin übergossen und angezündet. Als ich ungläubig nachfrage, ob das wirklich sein könne, sagte er mir, dass die Frau dies vor ihrem Tod aufgrund der starken Verbrennungen dem Polizeibeamten gesagt habe. Alle wissen aber, dass ihr Ehemann (der Bruder meines Freundes), der Alkoholiker ist und dadurch viele Probleme in der Familie schuf, seine Frau angezündet hat. Natürlich fragte ich nach, warum sie der Polizei nicht die Wahrheit gesagt hatte. Mein Freund meinte, dass sie eine «wonderful lady» gewesen sei und die ganze Familie ihr dankbar dafür sei. Für meine westlichen Ohren ist das unglaublich. Aber vielleicht hat sie an ihre vier Kinder gedacht, welche dann auch noch ohne Vater aufwachsen müssten. Ein Vater im Gefängnis (ein indisches Gefängnis ist natürlich auch die Hölle) würde den Werdegang der Kinder nur noch verschlimmern. Der Ruf der Eltern ist sehr wichtig für eine spätere Heirat. Ich kann es trotzdem kaum fassen, dass man so viel Grösse zeigen kann, wenn einem jemand so etwas Unerträgliches antut. Ich verneige mich vor dieser Frau und weiss genau, dass ich es nicht gekonnt hätte.

Dienstag, 22. März 2011

Holi

In Indien werden alle wichtigen Feste von allen Religionen gefeiert. Und da es hier viele Religionen gibt (Hindus, Moslems, Buddhisten, Sikhs, Jains, Christen und einige mehr) haben wir fast alle vierzehn Tage einen Feiertag.



Eines der zwei wichtigsten Feste der Hindus ist Holi. Natürlich gibt es zu Holi wie bei allen Hindufesten eine phantastische Göttergeschichte. Diese werde ich hier aber nicht erwähnen. Aber wie man sieht, feiert man Holi mit farbigem Puder, den man sich gegenseitig anwirft. Zu späterer Stunde kommt dann noch Wasser dazu und die «Sauerei» ist perfekt. Finian und Linus haben sichtlich Freude daran – ich ein wenig weniger, da ich schliesslich die ganze Pracht von der Haut, den Haaren und Kleidern wegschrubben muss. Die chemischen Farben sind recht aggressiv und unsere blonden Haare erhalten so einen leichten Grün- oder Pinkschimmer.



Jedes Kind sollte an diesen Tagen ein neues Kleidungsstück erhalten, doch leider ist dies aus finanziellen Gründen nicht allen Eltern möglich. Mir wird immer wieder gesagt, dass Holi ein wenig wie unser Weihnachten sei. Zum Glück haben die Menschen hier keine Ahnung, was für eine Päcklischlacht wir haben und wie enttäuscht unsere Kinder wären, wenn sie «nur» was zum Anziehen bekommen würden! Happy Holi!

Freitag, 18. März 2011

Sonnenaufgang, Maschinengewehr und Affentheater




Auch am letzten Wochenende wurde es uns kaum langweilig. Von unseren Freunden Sibylle und Beat bekamen wir die Einladung, frühmorgens um 6.00 Uhr zusammen eine Bootsfahrt auf dem Ganges mit Sonnenaufgang zu machen. Der Sonnenaufgang auf dem Ganges ist einfach magisch und so habe ich trotz der frühen Zeit sofort zugesagt.

Natürlich musste ich Finian und Linus aus dem Bett zerren. Und da Linus die halbe Nacht über Bauchweh geklagt hatte, waren wir recht müde.

Sobald man aber am Assi-Ghat steht und um 6.00 Uhr die Feuerzeremonie beobachtet, ist man wieder hellwach. Linus klagt leider immer noch über starke Bauchschmerzen und ich hoffe nur, dass er nicht auf dem Boot Durchfall bekommt (der Durchfall und die Kötzlete begannen erst in der darauf folgenden Nacht!).

Alles geht gut. Und bereits nach ein paar Minuten auf dem Fluss, sehen wir ein paar mal ganz kurz den Rücken eines Ganges-Delphins. Sie sind schwarz und recht selten zu sehen. Was für ein Glück! Wir sind zwei Stunden auf dem Boot und können uns von allem rund um uns herum kaum satt sehen.

Alle Inder, die ich kenne, stehen zwischen 4.00 und 6.00 Uhr auf. Obwohl die Sonne erst um 6.45 Uhr aufgeht, sind bereits hunderte Menschen am Wasser, um zu beten, die Wäsche zu waschen, sich selbst zu waschen oder ihren Geschäften nachzugehen. Alles ist spannend und so vergisst auch Linus seine Bauchschmerzen.

Als wir nach zwei Stunden vom Boot gehen, zeigt Linus auf einen Polizisten. Da Beat fliessend Hindi spricht, übersetzt er dem Polizisten die Frage, die Linus sofort gestellt hat. Er möchte wissen, wo sein Gewehr ist. Inder sind sehr kinderfreundlich und so hat er Linus liebevoll in die Backe gekniffen, ihn an der Hand genommen und zu einem anderen Polizisten geführt, der ein Maschinengewehr umgehängt hat. Und weil Linus so Freude daran hat, durfte er das schwehre Gewehr auch gleich halten. Auch fotografieren ist erlaubt (beim Zürcher Flughafen, vor unserem Abflug, durften wir nicht einmal ein Bild von den Sicherheitsleuten schiessen). Ja, in Indien ist vieles möglich. Linus ist überglücklich und sehr stolz!



Nach den vielen Erlebnissen sind wir alle zusammen in unser Lieblingsrestaurant gegangen. Die Pizzeria am Assi-Ghat. Dort gibt es «pancakes with sugar» für Finian und «curd with honey» für Linus. Es ist 8.30 Uhr, alle sind zufrieden und wir fragen uns, was der junge Tag wohl noch bringen wird.

Ich beschliesse, dass wir nun endlich in einen der kleinen Juwelierläden in der Nähe gehen und mir schöne Zehenringe aus Silber besorgen. Zusammen mit den Fussketteli an beiden Füssen ist es nun somit klar, dass ich verheiratet bin. Diesen Schmuck bekommt die Braut an ihrer Hochzeit und wird immer getragen. Sobald ich meine Fussringe trage, bekomme ich von vielen Inderinnen Komplimente und anerkennende Worte. So gehöre ich ein kleines bisschen mehr dazu.

Auf dem Rückweg begegnen wir einem Bettler mit zwei dressierten Affen. Die Augen der Affen wurden mit Kajal schwarz umrandet, damit sie ein wenig wie Hanuman (der Affengott) aussehen. Finian und Linus haben an der kurzen Show Freude und ich wünschte mir, dass es auch hier einen Tierschutz geben würde.



Um 16.00 Uhr habe ich mit meiner indischen Freundin Maria abgemacht. Nach zweieinhalb Jahren können wir das erste mal wieder in Ruhe sprechen und uns austauschen. Doch leider kommt es trotzdem nicht richtig dazu. Finian und Linus sind langsam müde und völlig überdreht (es war unmöglich, sie zu einer Mittagspause zu bewegen). Sie machen nur Blödsinn und ich muss sie dauernd zurechtweisen. Ich habe mich richtig für sie geschämt und ich war wütend und traurig, dass ich nach so langer Zeit mich nicht richtig auf Marias Worte konzentrieren konnte. Es gibt Momente, da wünschte ich mir eine Kinderauszeit! Für die privaten Gespräche braucht man einfach einwenig Ruhe und genügend Zeit - etwas, das durch die Kinder leider zu kurz kommt.

Donnerstag, 17. März 2011

Beim Fotografen

Wenn es im Kiran keine Generatoren (Stromerzeuger mit Diesel) gäbe, hätten wir hier von früh morgens bis gegen Abend keinen Strom. Auch in der Stadt gibt es andauernd Stomunterbrüche, die manchmal Stunden dauern können. So ist es nicht ratsam, von strombetriebenen Maschinen abhängig zu sein. Ich kenne keinen indischen Haushalt, der eine Waschmaschine oder einen Kühlschrank besitzt. Alles wird von Hand gemacht.

Indien ist somit auch immer eine Reise in die Vergangenheit. Was wir bei uns nur noch im Museum bestaunen können, wird hier noch immer wie vor hundert oder ein paar hundert Jahren verwendet.

In den meisten Wäschereien wird die Wäsche noch immer mit viel Kraft auf einen Stein geschlagen, in der Sonne aufgehängt und dann mit einem Kohle-Bügeleisen gebügelt. Alle Schneider, die ich kenne, benutzen mit Fuss oder Hand betriebene Nähmaschinen. Übrigens werden diese Nähmaschinen noch heute in Indien produziert.

So ist es auch nicht erstaunlich, dass ein Fotograf, den ich bei einer Rikschafahrt entdeckt habe, noch Porträts mit einer wohl 100-jährigen Kamera schiesst. Das mussten wir natürlich ausprobieren. Der Fotograf erklärte mir mit seinen paar Wörtern Englisch, dass schon sein Grossvater und Vater damit fotografiert hätten. Er holt einen kleinen Behälter mit Entwicklerflüssigkeit hervor und steckt das Ganze in den Kasten. Auch wir durften mal in den Kasten reinschauen. Durch die Linse sieht man alles auf dem Kopf und als nach ca. 15 Minuten das Negativ vom Besitzer entwickelt wurde, so war es meinem verwöhnten 1:1-Farbbildauge kaum möglich zu entscheiden, ob es was taugt. Der Fotograf meinte aber «good» und so lassen wir uns überraschen. In zwei Wochen, wenn wir wieder in der Stadt sind, werden wir das s/w-Bild von Finian und Linus abholen. Wir freuen uns auf das Bild, und das Erlebnis, wie es dazu gekommen ist, werden wir wohl nie mehr vergessen.

Mittwoch, 16. März 2011

Kiran-Nursery


Von Montag bis Freitag arbeite ich morgens in der Nursery. Vier Lehrerinnen aus der Unterstufe geben in der Nursery je 45 Minuten Unterricht. Der Unterricht findet entweder in der grossen Halle statt oder hinter der Halle open air (siehe Bild). Die Schwerpunkte sind Hindi-Schrift, Englisch-Schrift, englische Zahlen von 1 bis 10, Farben und Formen in Englisch.

In Indien wird sehr früh Leistung gefordert und so lernen die Kinder viel auswendig und wiederholen alles, was der Teacher sagt. Wenn man dann im Kindergarten (nur Schulunterricht) und in der Schule die Kinder beobachtet, dann merkt man schnell, dass vieles nicht verinnerlicht und begriffen wurde. So kommt es oft vor, dass ein Kind einige Jahre Englisch hatte, aber nicht in der Lage ist, ein normales Umgangsgespräch zu führen.

Meine Aufgabe in der Nursery ist es, die Lehrer zu mehr Kreativität im Unterricht zu bewegen. Das ist mir inzwischen recht gut gelungen. Die vielen Spielsachen und das Unterstützungsmaterial, das ich aus der Schweiz mitgebracht habe, wird nun rege eingesetzt. Die Lehrer haben Freude daran und die Kinder natürlich auch. Obwohl ich hier keine Spielgruppenphilosophie einbringen kann, bin ich doch zufrieden, dass der Unterricht erheblich dynamischer wurde.

Es wird mir hier immer wieder bewusst, in was für einem privilegierten Umfeld wir in der Schweiz leben. Hier werden die 12 Kopien für die Kinder noch von Hand geschrieben und kaum fotokopiert. Jeder Malstift und jedes weisse Blatt ist so wertvoll, dass die Kinder keinen freien Zugang dazu haben. Geschweige denn zu den Spielen. Und so ist alles angeleitet und überwacht. Sogar beim Malen müssen die Kinder die Mango oder den Baum genau so abmalen, wie es die Lehrerin vorgezeichnet hat. Und wenn dann Linus den Baum blau anmalt, dann schaut die Lehrerin entsetzt auf sein Blatt.

Allerdings: Bei 1,2 Milliarden Menschen braucht es wohl ein anderes Schulsystem, als wir es als kleine, überschaubare Schweiz haben. Angepasstheit ist sicherlich wichtiger als Individualität. Und so bin ich mit meinem kleinen Input in Richtung «Mehr Spass beim Lernen» recht zufrieden.



Übrigens, «meine» Kinder in der Nursery heissen: Kumkum, Tejel, Chandani, Amit, Ranjan, Ayush, Anmol, Ranju, Sonam, Nikil, Vishal, Sanjana und natürlich Linus!

Montag, 14. März 2011

Morgenandacht

Jeden Morgen vor Schulbeginn versammeln sich alle Kinder, Lehrer und Angestellte in der grossen Halle. Dort wird zusammen gesungen, gebetet und eine Lebensweisheit vorgelesen. Zum Schluss heben alle Kinder den rechten Arm (wir Erwachsenen aus Europa haben dabei immer ein komisches Gefühl) und sagen zusammen die untenstehenden Zeilen in Hindi oder Englisch auf:


Danach rufen alle zusammen: Bharat mata ki jai! (Guten Tag, Mutter Indien!) Diese Worte werden in allen Schulen in Indien aufgesagt. Kein Wunder, dass alle Inder so grosse Patrioten sind. Uns in der Schweiz würde das vielleicht auch gut tun.

Mittwoch, 9. März 2011

Surbahar und Hanuman


Bei unserem dritten Varanasi-Wochenendbesuch hatten wir wieder mal grosses Glück. Auf dem Weg zu unserem Zimmer sind wir Uma begegnet. Ich habe sie vor 13 Jahren bei meinem ersten Varansi-Besuch kennengelernt. Sie ist Französin und lebt wohl schon über dreissig Jahre in dieser heiligen Stadt. Da sie noch immer Reisegruppen in Varanasi betreut, informierte sie uns, dass gleich nebenan im wunderschönen Guest House «Ganges View» ein kleines Konzert für Gäste stattfindet. Sie hat uns spontan dazu eingeladen und wir kamen unverhofft in den Genuss eines Konzerts eines der berühmtesten indischen Surbahar-Spielers. Sein Name ist Pandiji. Wir sitzen auf dem Boden und hören dem langsam anfangenden Drupad-Spiel zu, das sich während einer halben Stunde langsam steigert. Finian ist ganz fasziniert von dem aussergewöhnlichen Instrument, dem anmutigen und stolzen Künstler, den ungewohnten Klängen und der wunderschönen ruhigen Stimmung. Linus wurde so relaxt, dass er eingeschlafen ist.

Vor 13 Jahren habe ich 14 Tage im «Ganges View» verbracht. Dazu kommt noch, dass die zwei riesigen Bilder, die wir zuhause im Wohnzimmer haben, hier gemalt wurden. Shashankji, der Besitzer vom «Ganges View», hat uns sogleich erlaubt, dass wir am nächsten Tag bei ihm frühstücken dürfen (sonst nur für Hotelgäste) und Finian mit dem Maler auf der Dachterrasse malen darf. Er meinte, dass wir Freunde des Hauses und daher sehr willkommen seien. Das ist wieder sehr indisch: Vor 13 Jahren habe ich mal dort logiert und es ist ihm klar, dass wir nebenan in der superbilligen Anami Lodge hausen, trotzdem sind wir Freunde des Hauses!

Am nächsten Tag sind wir gleich rüber und genossen ein wunderbares Frühstück mit Kännli und Servietten. Dann kam der Hausmaler und sein Enkel, der bei ihm in der Lehre ist. Finian bekam ein Blatt und die Anweisung, einen Arm und einen Fuss abzumalen. Das hat er dann auch super hingekriegt. Dann wollte er aber lieber eines der schönen indischen Gemälde an der Wand abmalen. Wenn er beim Künstler in der Lehre wäre, dann würde er wohl jahrelang erst Details abmalen, bevor er sich an grosse Bilder wagen dürfte. Aber es hat Finian grossen Spass gemacht. Nun weiss er, wer unsere Bilder gemalt hat und wo sie entstanden sind. Er wird sie wohl in Zukunft mit anderen Augen sehen.



Varanasi, die Stadt der Tempel. Man braucht nur ein wenig rumzuschlendern – sofort steht man wieder vor einem Tempel. Wir beobachten immer wieder, wie die Hindus ihre Rituale zelebrieren. Man bringt Blumen, Wasser von der Mutter Ganga, Süssigkeiten, Milch und bestimmte Gräser und Blätter. Jeder Gott wird an einem bestimmten Wochentag speziell gewürdigt. Samstag ist Hanumantag. So sind wir also auch in den Affentempel gegangen (Hanuman ist ein Affe). Klar, dass es in diesem Tempel viele Affen gibt, die von den Tempelbesuchern gefüttert werden. Leider darf man keine Kamera mitnehmen. So bleibt uns einfach die schöne Erinnerung und das Thika auf der Stirn.

Integration


Seit ein paar Wochen tragen Finian und Linus die Kiran-Schuluniform. Linus ist recht stolz darauf und Finian hat sich inzwischen daran gewöhnt. So werden sie immer mehr ein Teil vom Ganzen und fallen nicht mehr so auf. Man kann also sagen, dass Finian und Linus inzwischen recht gut integriert sind. Auch wenn es um den normalen Schulunterricht geht, fallen sie fast nicht mehr auf. Bei allen Aktivitäten sind sie dabei. Wie auch heute bei der «Kiran-Putzete». Alle Kinder und Angestellten gehen für eine Stunde raus, fegen und sammeln alle Blätter zusammen, reissen Unkraut aus und werfen allen Unrat weg. Das Motto ist: Was schön sein soll, muss auch gepflegt werden. Das wird wohl in Indien nur im Kiran gelehrt!


Am Nachmittag habe ich inzwischen eine neue Aufgabe gefunden. Ich arbeite nun von 13.00 bis 15.00 Uhr in der Special Education (morgens weiterhin in der Nursery). Dort sind alle Kinder, die nicht im normalen Schulalltag mithalten können und individuelle Förderung brauchen. Es gibt dort drei Gehörlosenklassen und drei Abteilungen für Kinder mit zerebralen Störungen. Dort bin ich. Meine Aufgabe ist es, fünf Kindern (Sneha, Abdulla, Otsches, Suhel und Satiam), die in den ersten Kindergarten wechseln sollen, die Zahlen von 1 bis 50 in Englisch beizubringen. Das macht sehr viel Spass, weil die Kinder super motiviert und unglaublich liebenswert sind.

Da ich nicht mehr im ersten Kindergarten bin, wollte natürlich Linus auch nicht mehr dort bleiben. Er war mit dem Schulunterricht sowieso recht überfordert und nun spielt er im oder um den Special-Education-Sektor herum und kann machen, was er will. Was mich besonders freut, ist, dass er inzwischen keine Angst mehr hat von den manchmal unkontrollierten Bewegungen oder Ausrufen der Behinderten. Sogar dem schwerstbehinderten Ravi, der sich sofort eine Hand schnappt und diese fast nicht mehr los lässt, gibt er freiwillig die Hand und staunt über das Anderssein von ihm. Ja, wir sind inzwischen wirklich integriert!

Montag, 7. März 2011

Wiedersehen mit Maria

Jedes zweite Wochenende fahren wir mit dem Kiran-Angestellten-Bus um 16.30 Uhr nach Varanasi. Am Assi-Ghat (einem der acht wichtigen Gebetsorte am Ganges) nehmen wir jeweils ein einfaches und billiges Zimmer. Ich bin froh, dass Finian und Linus nicht heikel sind. Manchmal verfügt man kaum über ein Brünneli und spuckt beim Zähneputzen einfach in einen Kessel. Und das Doppelbett teilen wir uns auch zu dritt. So wie die Inder.


Bei unserem ersten Besuch in Varanasi haben wir meine langjährige Freundin Maria in ihrem kleinen Nähatelier besucht. Ich habe sie das letzte Mal vor zweieinhalb Jahren gesehen. Sie hat inzwischen vier Angestellte. Alles ehemalige Kiran-Kinder, die nun erwachsen sind und einen Job brauchen. Durch ihre Behinderungen ist es nicht einfach, in Varanasi eine Arbeit zu finden. So nähen und sticken sie verschiedene Artikel für den Kiran-Laden und eine andere soziale Organisation. Maria (mit weisser Jacke) ist wie immer ein Sonnenschein, und ich freue mich so sehr, sie wieder zu sehen. Natürlich werden wir gleich für den nächsten Tag bei ihr zum Essen eingeladen. Südindische Küche – köstlich! Finian und Linus essen wieder mal nur Reis. Das ist für Maria sehr schwer zu verstehen, da sie sich so viel Mühe gegeben hat. Für die speziellen Linsenfladen hat sie zwei Tage gebraucht. Und dann essen diese zwei verwöhnten Kinder kaum einen Bissen. Ich verstehe die Kinder, aber gleichzeitig schäme ich mich auch ein wenig für ihr Luxusbenehmen.


Am Assi-Ghat entdeckt Finian natürlich gleich die zwei eingesperrten Uhus. Der Besitzer erklärt uns, dass man für 500 Rupies die beiden Uhus fliegen lassen kann. Das Ritual wird für die Göttin Lakschmi (Göttin für Wohlstand und Reichtum) gemacht und bringt viel Glück (und natürlich Wohlstand und Reichtum)! Da Finian und Linus die beiden Uhus unbedingt befreien möchten, willige ich ein (aber nur für 200 Rupies = 4 Fr.), obwohl ich natürlich weiss, dass diese Aktion weitere Uhu-Gefangenschaften fördert. Der Besitzer nimmt die beiden Uhus raus, legt Finian einen an die Stirn, umkreist mit dem Uhu fünfmal seinen Kopf und gibt ihn Finian für die Freilassung. Das ganze Spektakel wird auch bei Linus durchgeführt. Danach sitzen zwei befreite Uhus oben im Baum, und zwei glückliche Kinder können es kaum fassen, dass sie einen flauschigen Uhu streicheln und freilassen durften.


Danach laufen wir am Ganges auf den Bade-Ghats entlang. Überall sieht man was Neues und Ungewohntes. Die Baderituale an den Ghats, Bootsbauer, Bootsfahrer, Wäscher, die die Wäsche auf die Steine schlagen und auf den Ghat-Treppen zum Trocknen hinlegen, spielende Kinder (mit Drachen oder Cricket), Sadhus im Gebet und viele Inder, die auch auf den Ghats spazieren gehen und uns immer wieder fragen, ob wir sie fotografieren oder wenn sie eine eigene Kamera haben (eher selten), ob sie sich mit Finian und Linus zusammen fotografieren lassen dürfen. So werden auch wir immer wieder zum begehrten Fotoobjekt. Dass sich so viele Inder gerne fotografieren lassen, ist für uns natürlich sehr praktisch. Für viele Inder ist das die einzige Chance, sich mal selbst auf dem kleinen Fotobildschirm zu betrachten. Wenn sie sich sehen, strahlen sie über beide Backen und bedanken sich herzlich. Fast alles, was uns vor die Linse kommt, darf daher problemlos fotografiert werden, ausser den Verbrennungs-Ghats. Dort werden die Leichen, die auf Bambus-Barren durch die Stadt an eines der beiden Verbrennungs-Ghats gebracht wurden, in oranges Tuch gewickelt und auf einem Holzhaufen verbrannt. Ich bin erstaunt, wie selbstverständlich Finian und Linus mit diesen Verbrennungsszenen umgehen. Da ich ihnen bereits viel über den Tod und die Art, wie hier Menschen verbrannt werden, erzählt habe, waren wohl die Bilder nicht ganz neu für sie. Trotzdem riecht man den süsslichen Duft und spürt die besondere Stimmung. Nach Hinduglauben wird der Mensch, der in Varanasi am Ghat verbrannt und dessen Asche der Mutter Ganga (Fluss) übergeben wird, nicht mehr reinkarniert. Das heisst, dass die Seele nicht mehr wiedergeboren wird und direkt ins Nirwana kommt. Es ist also ein grosses Glück, in Varanasi zu sterben und hier verbrannt zu werden. Daher gibt es hier auch viele Sterbehäuser mit alten Menschen, die auf den Tod warten.

Was Finian viel mehr berührt und beschäftigt, sind die bettelnden Leprakranken, die man auch immer wieder sieht. Auch für mich ist dies immer wieder ein Anblick, der mich sehr beschämt und traurig macht. Und trotzdem freut es mich, dass Finian ein Herz für die Lebenden hat und den Tod als etwas Natürliches ansehen kann.


Der Februar ist einer der wichtigsten Heiratsmonate. Wir beobachten immer wieder die Paare, die an den Ganges kommen, um dort für eine gute Ehe zu beten. Wir sehen viele verschiedene Rituale und meistens eher unglückliche Hochzeitspaare. Noch heute werden fast alle Hochzeiten arrangiert. Die Braut hat es besonders schwer, da sie mit der Hochzeit das Elternhaus für immer verlässt und ins Haus des Bräutigams und der Schwiegereltern zieht. Oft sehen sich die Braut und der Bräutigam an der Hochzeit das erste Mal.

Finian ist wie ein Schwamm. Alles was er sieht, saugt er in sich auf und ist so ziemlich an allem interessiert. Seine Wissbegierde hat also in Indien nicht halt gemacht. Und da es hier tausende von Geschichten, Göttern und Ritualen gibt, wird es ihm auch nie langweilig. Er hat mir gesagt, dass er wohl in seinem Leben noch viele Male nach Indien kommen wird. Ich hoffe, er nimmt mich dann mit!

Linus macht alles ganz spielerisch mit und ich staune oft, was er doch alles begriffen hat. Wenn es nach ihm ginge, dann könnten wir aber auch bald wieder in die soooo schöne Schweiz. Dort, wo seine Freunde sind und alle seine Sprache verstehen.

Sonntag, 27. Februar 2011

Hunde-Freundschaft


Im Kiran hat es sehr viele Hunde. Sie laufen frei rum und werden mit Essensresten versorgt (natürlich alles vegetarisch). Finian und Linus finden das Leben hier mit Hunden wunderbar!


Als wir im Kiran ankamen, wurden ein paar Tage vorher fünf Hündchen geboren. Sie hatten noch geschlossene Augen und lagen draussen ganz eng bei der Mutter. Nach vier Wochen springen sie nun munter herum und lassen sich von Finian und Linus auf den Arm nehmen. Vor allem Linus kann sich stundenlang mit ihnen beschäftigen.


Linus hat eine Freundin gefunden


Sie heisst Sonam und ist mit Linus morgens in der Nursery. Linus sitzt immer neben ihr. Da sie einen Kopf kleiner ist als er, hebt er sie oft auf und trägt sie rum. Beim Spielen wird fast nur noch Sonam berücksichtigt.