Montag, 28. März 2011

Halbzeit

Eineinhalb Monate sind wir nun hier. Wir haben bereits so viel erlebt, dass wir das Gefühl haben, länger in Indien zu sein. Inzwischen ist unser Daheim das Guest House im Kiran geworden. Der Tagesablauf hat sich so sehr eingespielt, dass Linus bereits die Bemerkung machte, dass er sich wohl zuhause in der Schweiz auch wieder eingewöhnen müsse. So wie er es auch hier erlebt habe.

Es ist nun mindestens 35 Grad im Schatten. In der Nacht geht das Thermometer nicht mehr unter 27 Grad.

Wir leben hier in einem kleinen Mikrokosmos. Von den Sorgen draussen in der grossen Welt haben wir nicht viel mitbekommen. Da wir hier keinen Fernseher und keine Zeitung haben, stammen unsere einzigen Informationen aus den kurzen Mails oder Skypegesprächen mit Dominik. Vom Regierungswechsel in Ägypten und von den grossen Problemen in Libyen habe ich sogar erst vor ein paar Tagen durch einen Schweizer Besucher erfahren. Die Riesenkatastrophe in Japan wurde nur kurz von zwei indischen Lehrern erwähnt. Eine Lehrerin fragte mich besorgt, ob die Schweiz sehr nah bei Japan liege.

Die Menschen hier haben meistens nicht die Möglichkeit, sich um andere Probleme als die eigenen zu kümmern. Nicht dass sie nicht mitfühlend wären, aber der tägliche Überlebenskampf ist einfach noch zu gross. Hier ein paar Geschichten aus dem Kiran:

Als wir im Kiran ankamen, erzählte mir ein indischer Freund, dass seine Frau und die zwei Kinder gerade Typhus hätten. Seine Frau müsse über eine längere Zeit zweimal täglich eine Spritze bekommen, damit sie wieder gesund werde. Natürlich ist für teure Medikamente kein Geld da. So muss er bei einem Freund Schulden machen. Als es nach ein paar Wochen seiner Familie etwas besser ging, erzählte er mir, dass nun seine Schwiegermutter sehr krank sei. Da niemand gut für sie sorgen könne, habe er sie zu sich in sein Haus (für uns eher eine Hütte) eingeladen. Da es bei ihm zuhause besseres Essen gibt als dort, wo sie herkommen, sind gleich zwei Schwägerinnen mit ihren zwei Kindern mitgekommen. Mein Freund hat selber eine Frau und drei Kinder. Nun leben in dieser ca. 10 m2 grossen Hütte (ein Raum, in dem gekocht, geschlafen, Hausaufgaben gemacht und gearbeitet wird) fünf erwachsene Personen und fünf Kindcr. Das Geld ist bereits für seine Familie recht knapp. Nun muss er noch fünf weitere Personen durchbringen. Und das auf unbestimmte Zeit. Warum er nicht sagt, dass er keinen Platz habe und zu wenig Geld? Weil das in Indien unmöglich ist! Du kannst so die ganze Familie verlieren. Und ohne Familie bist du in Indien verloren – sie ist dein einziger Halt.

Was ich noch nicht erzählt habe, ist, dass mein Freund als einziger in der Familie stark behindert ist. Seine Beine sind durch Kinderlähmung sehr stark eingeschränkt und er läuft mit Beinstützen. Seine Frau behandelt ihn leider sehr schlecht. Und trotzdem macht er alles für sie. Schade, dass nicht alle erkennen, was für ein wunderbarer Mensch er ist.

Oder das damals dreijährige Mädchen, das vor 14 Jahren von ihrem Vater im Bahnhof zurückgelassen wurde mit den Worten: «Ich kommen gleich wieder.» Aber er ist nie mehr zurückgekommen. Da man die Eltern nicht ausfindig machen konnte, wurde sie ins Kiran gebracht. Die Beine des Mädchens sind wegen der Kinderlähmung so stark beeinträchtigt, dass sie heute im Rollstuhl sitzt. Sie ist hier in guten Händen, aber die Frage, warum wohl die Eltern keine andere Lösung gefunden haben, wird wahrscheinlich nie beantwortet werden.

Kürzlich würde ein 15jähriger Junge ins Kiran gebracht, der vor einem Jahr seinen rechten Unterarm, alle Finger der linken Hand ausser dem Daumen und beide Füsse bis zu den Fersen verloren hat. Warum? Sein Vater hatte Schulden, die er nicht zurückzahlen konnte. Da hat sich der Geldeintreiber bei seinem Sohn gerächt. Nun versucht man hier im Kiran, ihm Prothesen anzufertigen. Ob das gelingen wird, ist noch unklar, da die Haut an den Schnittstellen noch sehr empfindlich ist.

Oder das 20jährige Mädchen, das aus sehr armen Verhältnissen stammt, aber eigentlich zufrieden ist. Denn sie ist recht schön und hofft, einen guten Ehemann zu finden. Beim Kochen explodiert dann aber eine Gasflasche. Ihr ganzer Körper wird verbrannt und entstellt. Nun ist sie froh, als Näherin für Maria (meine indische Freundin) zu arbeiten. Ob sie noch einen Ehemann finden wird? Wohl kaum. Oder die Mitgift ist so hoch, dass die Eltern diese unmöglich bezahlen können. Aber das Schlimmste sind wohl die bleibenden Schmerzen, die grossen Bewegungseinschränkungen, da die Haut besonders an den Armen zu kurz ist und ihre grosse Scham. Als ich ihre entstellten Arme sah, war mir klar, dass ich unbedingt dafür sorgen muss, dass sie eine zweite Operation bekommt, die ihr erlaubt, ihre Arme ganz auszustrecken. In der Schweiz wäre das eine Selbstverständlichkeit.

Ein guter Freund erzählte mir, dass er im letzten Jahr nach Bombay fahren musste. Seine Schwägerin hatte sich in ihrer Wohnung vor ihrem Ehemann mit Benzin übergossen und angezündet. Als ich ungläubig nachfrage, ob das wirklich sein könne, sagte er mir, dass die Frau dies vor ihrem Tod aufgrund der starken Verbrennungen dem Polizeibeamten gesagt habe. Alle wissen aber, dass ihr Ehemann (der Bruder meines Freundes), der Alkoholiker ist und dadurch viele Probleme in der Familie schuf, seine Frau angezündet hat. Natürlich fragte ich nach, warum sie der Polizei nicht die Wahrheit gesagt hatte. Mein Freund meinte, dass sie eine «wonderful lady» gewesen sei und die ganze Familie ihr dankbar dafür sei. Für meine westlichen Ohren ist das unglaublich. Aber vielleicht hat sie an ihre vier Kinder gedacht, welche dann auch noch ohne Vater aufwachsen müssten. Ein Vater im Gefängnis (ein indisches Gefängnis ist natürlich auch die Hölle) würde den Werdegang der Kinder nur noch verschlimmern. Der Ruf der Eltern ist sehr wichtig für eine spätere Heirat. Ich kann es trotzdem kaum fassen, dass man so viel Grösse zeigen kann, wenn einem jemand so etwas Unerträgliches antut. Ich verneige mich vor dieser Frau und weiss genau, dass ich es nicht gekonnt hätte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen